Als die Amerikaner kamen

Es war Frühling, als die Amerikaner kamen. US-Kampftruppen rückten vor 75 Jahren auf die Mitte Westfalens vor und marschierten am 7. April 1945 in Scheidingen ein.


„Wie eine gefährliche Schlange kam die Welle des Krieges immer näher gekrochen“
, so ist in der Chronik der Pfarrgemeinde St. Peter und Paul zu lesen. Die Vorboten des Krieges, so Pastor Holthaus, seien schon in den Wochen vor Ostern erkennbar gewesen: Scharen von Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen, halb verhungerte Gestalten voller Läuse, die durch das Dorf geführt wurden.

Auch am Himmel hatte es vermehrt Zeichen gegeben, die Zahl und Wucht der Luftangriffe auf benachbarte Städte nahm stetig zu. Die Eisenbahnlinie zwischen Scheidingen und Wambeln geriet ins Visier von Tieffliegern. Ein Jahr zuvor war eine so genannte „Fliegende Festung“ der Amerikaner mit dem Angriffsziel Münster auf einem Acker nahe Scheidingen abgestürzt.

Kein Wunder, dass unsere Vorfahren den „Feind“ mit gemischten Gefühlen erwarteten. Wie würden die Sieger auftreten? Als Besatzer oder Befreier?

Nach dem Osterfest war sie schließlich da, die Welle des Krieges, am Tag vor dem Weißen Sonntag. Sie kündigte sich mit einem lauten Knall an, wie ein anderer Zeitzeuge berichtet. Kurz vor der Zollbrücke über den Salzbach fuhr ein US-Panzer auf eine Mine und feuerte in Richtung Dorf. Danach drangen Bodentruppen in die Häuser ein, auf der Suche nach deutschen Soldaten. Reguläre Truppenteile der Wehrmacht lagen zwar nicht mehr im Ort. Jedoch hatten noch am Vortag ein paar Versprengte Unterschlupf in einer Scheune gefunden.

Durch Artilleriebeschuss verlor ein neunjähriger Junge sein rechtes Bein. Wo heute Haare geschnitten werden, richteten die Amerikaner ihre Kommandantur ein und blieben dort etwa sechs Wochen. Uhren waren bei den GI´s besonders beliebt und wechselten oft unfreiwillig den Besitzer. Wohl deshalb ist in einem Augenzeugenbericht auch die Rede von einer „Uhren-Sammler-Armee“ (USA). Umgekehrt wurden die Dorfkinder mit Süßigkeiten und Schokolade beschenkt. Insgesamt hat unser Dorf den Einmarsch glimpflich überstanden, Illingen traf es mit mehreren Toten und Verletzten bei weitem härter. Ganz zu schweigen von dem Schicksal derjenigen, die der Roten Armee im Osten in die Hände fielen.

Zuvor hatten die US-Truppen bereits Welver besetzt. Wie aus der Pfarrchronik hervorgeht, sollte der „Volksturm“, also das letzte Aufgebot, Panzersperren an den Dorfausgängen errichten. Dieser Befehl kam von der NSDAP-Ortsgruppe Welver jenseits des Salzbaches, im Volksmund auch „Jordan“ genannt. Am Bahnhof Meyerich liege die „Hochburg“ der NS-Machthaber, so Holthaus. Eine Anspielung auf den gefürchteten Ortsgruppenleiter und „alten Kämpfer“, der schon vor der „Machtergreifung“ der NSDAP beigetreten war. Dieser Nazi-Funktionär herrschte über sein kleines Reich wie ein großer Führer. Er hatte auch die Gemeindevertretung in Scheidingen „gleichgeschaltet“. Anstelle von demokratischer Selbstverwaltung galt fortan das „Führerprinzip“.

Mit dem Einmarsch der Amerikaner wehte ein anderer Wind, die Machtverhältnisse änderten sich. Der Bürgermeister von Scheidingen, ein Parteigenosse des Ortsgruppenleiters und von Beruf Hühnerfarmer, musste seinen Stuhl räumen. Aus gutem Grund:  Nach Krieg und Diktatur sollte ein demokratischer Neuanfang gewagt werden.

Am 3. Mai 1945 ernannte der Landrat neue Bürgermeister und deren Stellvertreter. Die Ernennung fand im Postamt Werl statt, im Einvernehmen mit der Militärregierung und unter dem ausdrücklichen Vorbehalt, dass die neuen Führungskräfte nicht Mitglied der NSDAP gewesen waren.

So wurde für Scheidingen Franz Berz (Naarmann) als Bürgermeister verpflichtet. Zu seinem Stellvertreter bestimmte man Fritz Kampmann (Baule). Beide Männer waren Bauern, beide gehörten dem katholischen Zentrum an und waren politisch unbelastet. Im Jahr darauf fanden die ersten Kommunalwahlen nach dem Krieg statt. Die neue Gemeindevertretung trat erstmals am 26. September 1946 zusammen. Franz Berz und Fritz Kampmann wurden diesmal durch Abstimmung legitimiert und in ihren Ämtern bestätigt.

Allerdings erfasste der „wind of change“ längst nicht alle Lebensbereiche. So wurde z. B. die Dorfschule gegenüber der Kirche nicht richtig „durchgelüftet“. Der aus dem Ruhrgebiet stammende Hauptlehrer, ein „brauner“ Pädagoge mit Parteibuch, durfte auch nach dem Umschwung weiter unterrichten.

Als die Amerikaner kamen, war für unsere Vorfahren der Krieg zu Ende, vier Wochen vor der bedingungslosen Kapitulation am 8. Mai 1945. Aber friedlich war es noch lange nicht. Der Weg von Scheidingen nach Werl sei fast unpassierbar gewesen, ein in Scheidingen wohnhafter Mitarbeiter des Amtes Werl auf dem Heimweg lebensgefährlich verletzt worden, schreibt Holthaus.

Es waren unsichere Zeiten, Zeiten großer Not. Ehemalige russische und polnische Zwangsarbeiter, die auf dem Fliegerhorst Werl untergebracht waren, zogen nachts plündernd übers Land und überfielen einsam gelegene Gehöfte, z. B. Schulte-Euler, Schulte-Bisping oder Lips in der Vöhde. Da die staatliche Ordnung zusammengebrochen und von den Besatzungstruppen zunächst keine Hilfe zu erwarten war, griffen die wenigen einsatzfähigen Männer zur Selbsthilfe. Sie gründeten eine Art Bürgerwehr. Besonders tragisch: Ein polnischer Arbeiter, der sich diesem Wachdienst angeschlossen hatte, wurde bei einer nächtlichen Rettungsaktion von alliierten Soldaten angeschossen und tödlich verletzt. Sie hatten ihn irrtümlich für einen Plünderer gehalten.

All das waren die Folgen eines Krieges, der von Deutschland ausging und nach Deutschland zurückkehrte. Kaum eine Familie, in der dieser Krieg nicht schmerzhafte Wunden gerissen hatte: Väter und Söhne, die gefallen, vermisst oder in Gefangenschaft geraten waren; Ausgebombte aus dem Ruhrgebiet, deren Hab und Gut verbrannt war; Überfüllte Züge mit Hamsterern aus dem Kohlenpott; Flüchtlinge aus Schlesien oder Ostpreußen, die um ihre verlorene Heimat trauerten – und vieles andere mehr.

Es ist wichtig, an dieses dunkle Kapitel deutscher Geschichte zu erinnern, auch an den Holocaust, dem etliche Mitglieder der aus Scheidingen stammenden Familie Schürmann zum Opfer fielen. Emil, Albert und Selma wurden im Konzentrationslager Treblinka ermordet. Eva war mit dem letzten Vorsteher der Jüdischen Gemeinde in Werl, Max Halle, verheiratet. Sie kam während ihrer Deportation am 30. April 1942 ums Leben. Zum Gedenken wurde ein Weg in der „neuen“ Siedlung nach der Familie Schürmann benannt.

Die Geschichte mahnt uns, Verantwortung zu übernehmen für ein friedliches Miteinander. Denn ein Leben in Frieden und Freiheit ist nicht selbstverständlich. Wir alle können, ja wir müssen etwas dafür tun.

(Der Verfasser freut sich über konstruktive Hinweise, Fotos und weitere Dokumente der Zeitgeschichte.)